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Der Hausdiener des Hotels erschien heute in einem T-Shirt mit der Aufschrift "Brooklyn NYC". Wir wechselten nach dem Frühstück in ein anderes Zimmer, von dem wir hofften, dass es ruhiger wäre. In der vergangenen Nacht hatte mich mehrmals das Geräusch eines Kompressors geweckt, der in gewissen Zeitabständen für einige Minuten mit Getöse lief.

Wir begannen unsere Rundgang in dem Viertel hinter dem Bolschoy-Theater, wo sich ein teurer Markenshop an den anderen reiht. Nach einigem Wandern kamen wir an das "Hohe St. Peter Kloster", das sehr nett, aber in einigen Teilen auch sehr renovierungsbesürftig ist. Besonders gut gefallen hat uns eine der Kirchen, mit weitem, lichtem, in hellen Farben gehaltenem Innenraum.

Moskau - Hohes St. Peter Kloster

In der Gegend beim Kloster viele große Verwaltungsgebäude und zahlreiche große Autos mit, wie so oft in dieser Stadt, geduldig wartenden Chauffeuren. Wir saßen eine Weile auf einer Bank unter den Bäumen eines Boulevards und staunten zum wiederholten Mal darüber, mit welchen hochhackigen Schuhen hier viele Frauen ihre Füße quälen, hoben brav die Beine hoch, damit einer der unzähligen Straßenkehrer unter unserer Parkbank sauber machen konnte, kamen an dem überaus hässlichen Bau der Nachrichtenagentur TASS vorbei, sahen mehrmals Dreierformationen von Sprengwagen die Straßen spritzen, fanden die Jugendstil-Villa von Gorki von einem Bauzaun umgeben und unzugänglich und landeten bei den Patriarchenteichen in dem netten holländisch inspirierten Café "Nachtwacht".

Moskau - Fontan Rotonda

Eine recht lange U-Bahn-Fahrt brachte uns in die Nähe der Lomonossow-Universität mit ihrem riesenhohen Turm, in die wir allerdings nicht hinein durften. Vor ihr erstreckt sich eine weite Fläche mit Brunnen und Gartenanlagen, die von mehreren Straßen gequert wird. Bei der ersten Kreuzung standen mehrere schwere Limousinen und SUVs, bei denen junge Leute abhingen und Wasserpfeife rauchten. Offenbar ein Treffpunkt der besser gestellten Jugend.

Moskau - Lomonossow-Universität

Auf den Straßen links und rechts raste ein Sportwagen mit buchstäblich qualmenden Reifen auf und ab. Schon auf den vielspurigen Straßen der Innenstadt hatten wir immer wieder erlebt, dass schnelle Fahrzeuge mitten im Verkehr von einem Ampelhalt zum nächsten mit heulendem Motor, röhrendem Auspuff und quietschenden Reifen voll ausgefahren wurden. An den Wettrennen beteiligen sich auch Motorradfahrer mit schweren Maschinen. Eine Gruppe mit großkalibrigen Moppeds trafen wir dann auch am Ende der Anlage, von wo man, hoch über dem Fluss, einen weiten Ausblick über die Stadt hat. Wir genossen das Panorama und suchten dann die Sesselbahn zum Flussufer, die der Reiseführer versprach. Die war allerdings nicht in Betrieb. Gebaut worden war sie offenbar als Aufstiegshilfe zu einer hoch aufragenden Schisprung-Schanze, an der entlang wir nun zu Fuß abstiegen und weiter hinunter zum Fluss.

Moskau - Skyline

An seinem Ufer waren schicke Sitzbänke, auf denen wir uns mehrmals niederließen, vereinzelt gab es Imbissstände, wie überall in Parks und Anlagen und auch sonst sahen wir turtelnde Paare jeden Alters und natürlich Leute, die einander fotografierten. Von einer Bank in der Nähe sprang ein junger Mann nur mit einer Unterhose bekleidet, das Verbotschild missachtend, in den Fluss, schwamm und tauchte einige Züge in der nicht sehr einladenden Brühe und kletterte wieder heraus zu seinen Freunden, die das Ganze mit dem Smartphone gefilmt hatten.

Die Metrostation, zu der wir wollten, liegt auf der einer verglasten Brücke über dem Fluss. Jetzt, am Vorabend, kamen die Züge in kürzester Folge und waren dicht besetzt. Aber auch in solchen Situationen erleben wir die Moskowiter als durchwegs angenehm. Selten wird schlimm gedrängelt, niemand kommt einem näher als nötig und man passt natürlich auf seine Sachen auf, aber das Risikogefühl, vielleicht bestohlen zu werden, ist nicht größer, als in irgendeiner deutschen Grossstadt.

Mit einmal Umsteigen kamen wir zur Lenin-Bibliothek und liefen von da zum Arbat, einer beliebten Fußgängerzone mit vielen Lokalen. Wir landeten schließlich im Warenuia, einem sehr freundlichen modernen Lokal mit Anspielungen an sowjetische Propaganda an den Wänden, bestückten Bücherregalen zwischen den Tischen und ziemlich einheimischem Essen. Wir hatten kleine Teigtäschchen mit vegetarischer bzw. fleischhaltiger und zum Schluss gemeinsam mit süßer Füllung, dazu naturtrübes Bier "Sibirskaja Korona" und waren sehr zufrieden. Die Hintergrundmusik - amerikanischer Pop.

Moskau - Lenindenkmal

An der Lenin-Bibliothek mit dem altersmüde wirkenden Standbild von Dostojewski vorbei kamen wir zu dem Alexandergärten und dann am Roten Platz vorbei zurück zum Hotel. Auf dem Platz gegenüber dem Bolschoy saß in jedem dritten Auto ein Chauffeur und auf der Teatralnaia wurden die üblichen Rennen gefahren.

Auf dem Weg zur Metrostation trafen wir auf den Startpunkt einer Oldtimer-Rallye. Unterhalb einer großen Plakatwand der Uhrenfirma L.U. Chopard, die das Ganze offenbar veranstaltete, waren sehr gut erhaltene große Limousinen der Marken Bentley, Opel, Mercedes, Horch und anderer bekannter Marken aufgereiht. Ob das die Originale der als Kriegsbeute nach Moskau gelangten Karossen deutscher Nazigrößen waren, oder einfach gleichartige Fahrzeuge dieser Marken, war nicht zu erkennen. Hatte damals jemand einen knallblauen Horch gefahren?

Oldtimer Auto Union - Horch

Auf der Fahrt zum Siegespark erlebten wir eine der opulenten alten Metrostationen mit riesig breiten und langen Fluren, Laternen und Leuchtern. Der monumentale Park, den wir besuchten, ist dem Sieg über Deutschland 1945 gewidmet und bekam natürlich jetzt, im Monat des siebzigsten Jahrestages besondere Bedeutung.
Gleich hinter dem Eingang waren verschiedene Spielfelder für allerlei Funsportarten aufgebaut und es ertönte laute Musik mit amerikanischen Texten. Später, bei einer Siegerehrung erklang die russische Nationalhymne und einige Umstehende nahmen Haltung an. Wir wanderten die zentrale Achse hinauf zu dem 142 Meter hohen Obelisken, umrundeten das ihn im Halbrund umfassende Museum und gingen dann im weiten Bogen durch den Park zurück. Wir sahen noch einige Denkmäler mit Bezug zu Krieg und Sieg, passierten ein Areal, in dem Panzer und anderes Kriegsgerät ausgestellt waren, eine Gedenksynagoge und zahlreiche Imbissstände. Es gab Verleihstationen für Kickboards, Fahrräder und Inline Skates, die gut frequentiert waren. Und es gab natürlich Familien mit quengelden Kindern, die alles und nichts zugleich wollten.

Moskau - Siegespark

Kleidung, Musik, Markennamen - man ist geneigt, Moskau für ziemlich amerikanisiert zu halten. An Imbissständen gibt es "Hotdogi", zum Frühstück werden "Sosici" angeboten, es gibt Mc Donalds (alles in kyrilischen Zeichen), und als wir am Ende unseres Rundgangs wieder im Areal der Wettbewerbe ankamen, übte auf einer Wiese auf einem Hügel eine Gruppe knappberockter Mädels mit Puscheln Cheerleadertänze. Wir sahen noch einige Zeit den Darbietungen von Gymnastikgruppen zu, darunter auch einer, in der die Mädchen ihre Übungen in militärähnlichen Trikots und Kopftüchern zu martialischer Musik vollführten. Dann stiegen wir wieder hinab in die Metro.

Wenn Napoleon heute käme, um Moskau zu erobern, würde er sich in der Metro verirren. Unser Versuch, mit einmal Umsteigen zur Kropotkinskaia zu gelangen, führte zu einer längeren Irrfahrt, die auf einem weiten Stück sogar oberirdisch verlief. Es gibt an manchen Stellen, selten dort, wo man sie braucht, kleine Linienpläne, es gibt auch gelegentliche Hinweisschilder, aber es gibt kein einheitliches Leitsystem und an manchen Stationen findet man den Namen nur mit Glück und guten Augen.

Moskau - Metrostation

Schließlich erreichten wir doch die Kropotkinskaia, benannt nach einem führenden Anarchisten, Sie liegt gegenüber der Erlöserkirche am Ende einer Grünanlage, die wir hinauf zum Standbild von Gogol und wieder herunter wanderten. Geleitet vom Reiseführer sahen wir noch gegenüber der Kirche eine etwas verwaist wirkende, angeblich der Nomenklatura vorbehaltene alte Tankstelle.

Neben dem Engels-Denkmal in der Nähe schienen etliche Trinker ihren Stammplatz zu haben. Wir ließen uns etwas abseits zur Rast nieder.

Unsere nächste Station war das Satschtjewskij-Frauenkloster, ein überaus freundlich gestalteter Ort. Die niedrige Kirche war voll mit Gläubigen, auf dem Boden lag trockenes Gras, dessen Duft zusammen mit dem von Weihrauch die Luft erfüllte, den Gesängen des Priesters antwortete jeweils ein wohlklingender mehrstimmiger Chor der ganz in schwarz gekleideten Nonnen. Wir hörten eine Zeit lang zu.

Moskau - Satschtjewskij-Frauenkloster

Angrenzend an diese beschauliche Stätte liegt ein Viertel, in dem früher der Adel wohnte und wo heute der moderne Geldadel haust. Große Dichte schwarzer Limousinen, SUVs und Wachleute. Auf dem weiteren Weg sahen wir noch das hölzerne Haus mit Säulenvorbau, in dem Turgeniew gelebt hat, dann waren wir bei der Metrostation Kulturpark und kamen nach einer weiteren Irrfahrt zum Kreml. Mehr aus Verlegenheit wegen der fortgeschrittenen Zeit gingen wir nochmal im Gum essen.
Danach saßen wir noch im Blütenduft der Alexandergärten und sahen den Leuten zu, die heute allerdings weit weniger zahlreich unterwegs waren.

Kreml bei Nacht

Das Frühstücksbuffet war etwas weniger vielfältig, als in unseren bisherigen Hotels, und der Kaffee "Amerikano" floss ziemlich dünn aus dem Automaten.

Wir nahmen die U-Bahn zur Christ-Erlöser-Kathedrale. Sie war 1883 eingeweiht worden, wurde 1931 gesprengt, um einem 415 Meter hohen Palast der Sowjets Platz zu machen, der aber nie entstand, und wurde im Jahr 2000 in einer originalgetreuen Rekonstruieren aus Stahlbeton wieder errichtet. In jüngerer Zeit wurde sie bei uns durch den Protestauftritt von Pussy Riot Anfang 2012 bekannt. Der Innenraum ist voll Prunk und Gold und Malerei, sehr prächtig gestaltet.

Moskau - Christ Erlöser Kathedrale

Wir querten die Brücke bei der Kirche, von der sich interessante Ausblicke auf die Stadt boten, fanden ein kleines Ensemble altertümlicher Gebäude, die sich zwischen den modernen Bauten duckten, umrundeten einen kolossalen Wohnkomplex, in dem die Nomenklatura der Stalinzeit hauste, sahen aus verschiedenen Perspektiven die ziemlich unglaubliche, gigantische Statue von Zar Peter dem Großen samt riesigem Segelschiff in einer Gabelung des Flusses, und landeten schließlich im Skulpturenpark, wo teils neue, teils nicht mehr erwünschte oder nicht mehr benötigte Denkmäler aufgestellt sind. Da findet man Marx und Lenin und Breschnew und neben all den staatstragenden und heroischen Standbildern auch viele künstlerische, nette oder verspielte Skulpturen.

Moskau - Skulpturenpark

In der Nähe des Flussufers gab es einen großen Brunnen mit zahlreichen senkrecht aufsteigenden Wasserstrahlen, die mal höher, mal niedriger wurden. Zwischen ihnen tobten und balgten sich Kinder und Jugendliche, die dabei natürlich patschnass wurden, aber das Wetter war warm und oft schien die Sonne. Vor dem etwas klotzigen Ausstellungsbau der Tretjakov-Galerie gab es Markthallen, wo Künstler und Kunsthandwerker ihre Sachen verkauften. Auch allerlei Trödel wurde gehandelt.

Moskau - Wasserspiele

Wir unterquerten eine breite Straße, durch eine Unterführung in deren Kioskreihen ebenfalls Kunst gehandelt wird, und kamen zum Gorki-Park, hinter dessen gigantischem Säulenportal eine wildfröhliche Schaumparty im Gang war. Vor einer Bühne, auf der zwei Schaumkanonen standen, amüsierte sich die jüngere Generation in einem tiefen Schaumteppich. Auf der anderen Seite der Bühne plantschten und schwammen einige Jugendliche in einem großen Brunnenbecken. Anders als überall sonst war hier kein Aufsichtspersonal zu sehen.

Moskau - Schaumparty

In dem großen Vergnügungspark herrschte reges, ausgelassenes Leben. An verschiedenen Stellen gab es Popmusik in beachtlicher Lautstärke. Promotion-Aktionen von Red Bull, Puma, Reebok boten verschiedene sportliche Attraktionen und es gab zahlreiches buntes Volk anzuschauen. Moskau zeigte sich an diesem Tag von einer überaus farbenfrohen, lauten und fröhlichen Seite.

Wir überquerten den Fluss auf einer überdachten Fußgängerbrücke und gingen am anderen Flussufer zurück. Da erstreckte sich zunächst ein riesiges, militärisch bewachtes Gebäude. Seinem Haupteingang gegenüber lag am Flussufer ein mehrstöckiges, dunkel verglastes, schwimendes Bauwerk mit einem Hubschrauberlandeplatz oben drauf und einer Anlegestelle, in der ein großes, von zwei gewaltigen Luftschrauben getriebenes Schnellboot lag. Die Stadt ist voll von Vorkehrungen, um der Obrigkeit das rasche, geschützte Kommen und Gehen zu ermöglichen. Man sieht auch immer wieder Konvois schwarzer Limousinen und Vans, die von Fahrzeugen mit Blaulicht eskortiert werden, einzelne schwarze Zivilfahrzeuge mit aufgesetztem Blaulicht und an einigen Stellen der Stadt gibt es durch Gitter und Schranken geschützte Bereiche und Fahrtwege.

Moskau - Schwimmender Landeplatz

Die riesige Stadt wirkt sauber, aufgeräumt und sicher. Überall steht Wachpersonal. In Supermärkten, vor Banken, an Baustellen. An vielen Stellen sind Polizeiautos postiert. In U-Bahnhöfen gibt es sogar Wächter mit Metalldetektoren und Geräte zum verdachtsweisen Durchleuchten von Gepäckstücken. Und immer wieder sieht man Straßenkehrerinnen, Menschen, die Müllkübel leeren, Kehrmaschinen und Formationen von Reinigungswagen, die mit scharfen Wasserstrahlen die breiten Fahrstraßen säubern.

Auch das untere Tor des Kreml, dem wir uns bei beginnender Abenddämmerung vom Fluss her näherten, war natürlich strengstens geschützt und bewacht. Außen, entlang der Kremlmauer allerdings herrschte buntes Flanieren. In den blühenden Büschen steckten überall Frauen, die sich in allen Posen vor Blütenzweigen fotografieren ließen oder sich selbst fotografierten. Wie überhaupt allenthalben geknipst wurde. Für Geld konnte man zahme Tauben auf die Hand nehmen, mit einem lebenden Plüschbären posieren oder mit einem in ein altertümliches Brokatgewand gekleideten Afrikaner. Mehrmals wurde ich gebeten, Leute mit ihren eigenen Apparaten abzulichten. Zwischen den Spaziergängern kamen uns in Gruppen zahlreiche Bauarbeiter entgegen, die jetzt am Abend von der Arbeit zurückkehrten.

Moskau - Blüte im Alexanderpark

Wir schauten dem bunten Treiben noch eine Weile zu und gingen dann ins von Lichterketten bekränzte Kaufhaus Gum, erstens, um Geld zu holen, zweitens, um in dem vortags entdeckten Selbstbedienungsrestaurant essen zu gehen. Praktisch daran ist, dass man Speisen und Preise sieht und sich seine Mahlzeit nach Belieben selbst zusammenstellen kann. Später saßen wir noch am hell erleuchteten Roten Platz mit den angestrahlten Gebäuden, dann in dem Park an der Kremlmauer, wo noch immer viele Menschen unterwegs waren und einige Nachtigallen unermüdlich sangen.

Auf die klassizistische Säulenfassade der "Manege" wurden der Fassadenstruktur geschickt angepasste Videopräsentationen projiziert, die mit Sprache und lauter Musik untermalt waren. Zum Teil waren es märchenhafte Szenen, größtenteils aber die propagandistisch aufgemachte Geschichte des russischen Volkes, einschließlich des Sieges über Hitlerdeutschland und bis hin zur Raumfahrt und den Olympischen Spielen. Stalin war ausgespart.

Moskau - Videoprojektion

Wir genossen noch eine Weile den lauen Abend im Park und machten uns gegen Mitternacht auf den Weg ins Hotel. Auf den breiten Straßen war noch immer reger Verkehr.

Die Zugfahrt in dem edlen Abteil war ganz angenehm und ohne Zwischenfälle. Etwas mehr Lüftung hätten wir uns gewünscht. War der Uniformierte nachts noch in vollem Ornat auf dem Flur zu sehen gewesen, so traf man ihn morgens, auf dem Weg zur Katzenwäsche, auch im Schlafanzug an. Nach unseren Pässen hatte zu unserem großen Erstaunen niemand gefragt. Offenbar genügte die Grenzkontrolle in Weißrussland auch für hier. Warum dann zwei Visa?

Zum Frühstück bekamen wir ein großes Glas Tee in einem ziselierten silbernen Halter und sehr pünktlich um viertel vor Acht waren wir in Moskau. Von innen wirkte der Weissrussische Bahnhof ziemlich provinziell, aber als wir hinaustraten, öffnete sich vor uns ein riesiger Platz. Zuerst versuchten wir, einen Geldautomaten zu finden, doch die, zu denen wir kamen, erschienen uns als schäbig und wenig vertrauenserweckend. Dann versuchten wir, mit zwei Tickets von Annas vorjährigem Aufenthalt U-Bahn zu fahren, aber die waren nicht mehr gültig. Also doch zuerst Geld besorgen, um Fahrkarten kaufen zu können.

Wir liefen zu einigen modernen Gebäuden an einer Seite des Platzes und fanden schließlich eine kleine Bank mit einem Geldautomaten im Vorraum. Das erschien uns vertrauenerweckend. Leider lag die Obergrenze für eine Abhebung bei 5000 Rubel, also etwa 87 Euro, und das scheint das Tageslimit zu sein. Wir würden also weiter nach einer Bank suchen und vermehrt mit der Kreditkarte zahlen müssen. Wir wissen zuverlässig nur die PIN von Friederikes EC-Karte. Alle anderen standen verschlüsselt in meinem nun nicht mehr verfügbaren Telefon.

Immerhin genügte der Betrag für die ersten Ausgaben, und so kauften wir Metrotickets und stürzten uns ins Abenteuer der ersten moskauer U-Bahn-Fahrt. Die Tickets enthalten einen RFID-Chip, der mit einer gewissen Anzahl von Fahrten aufgeladen ist. An den Sperren hält man die Karte an ein Lesegerät. So riesig an der Oberfläche die Plätze sind, so lang sind unter der Erde die Gänge zu den Zügen. Beim Umsteigen zwischen den Linien geht es auch mal auf und ab und endlose Korridore entlang, ähnlich wie in Paris. Ohne größere Probleme erreichten wir die Gegend unseres Hotels und nach einigem Suchen fanden wir auch das richtige Haus.

Allerdings waren wir viel zu früh dran und mussten zwei Stunden warten, bis wir unser Zimmer beziehen konnten. Das erwies sich als klein, spartanisch ausgestattet und ein wenig schäbig und stand damit in erheblichem Gegensatz zu unseren bisherigen Unterkünften.

Wir packten aus und dösten eine Weile, dann machten wir uns auf zu einem ersten Rundgang. Die Lage des Hotels macht den Mangel an Komfort einigermaßen wett, denn es liegt wirklich nur ein paar Minuten vom Roten Platz entfernt. Dort hielten wir uns längere Zeit auf und hatten unser Vergnügen mit den Touristen aus aller Herren Ländern, die einander in den seltsamsten Posen vor der Kulisse des Platzes fotografierten. Die war allerdings etwas beeinträchtigt durch eine riesengroße überdachte Bühne, welche die klassische Längsperspektive zur Basiliuskathedrale störte, die man von vielen Fotos her kennt. Vor dem Tor des Kreml sahen wir eine Wachablösung und hatten Gelegenheit, uns Gedanken über Sinn und Bedeutung des Stechschrittes und der rhythmisierten Handhabung von Gewehren zu machen. Beim zackigen Abnehmen des Bajonetts schien sich einer der Abtretenden verletzt zu haben, jedenfalls hielt er sich im Weggehen etwas unsoldatisch die Hand. Den beiden neuen Wächtern richtete noch ein Kamerad Krawatte und Kragen und zog ihnen das Hemd glatt, dann standen sie stocksteif allein zu Seiten des Tores, in dessen Hintergrund ein Drehkreuz aus Edelstahl die Aufgabe der Zugangskontrolle versah, die wohl in historischer Zeit der Daseinsgrund ihrer Vorgänger gewesen sein dürfte.

Moskau - Tor zum Roten Platz

Wir umrundeten die Basilika, blieben an ihrer Seite etwas sitzen und besichtigten anschließend das riesige Kaufhaus Gum, auf dessen Etagen sich ein internationaler Markenshop an den anderen reiht. Ganz im Kontrast zu den dortigen Preisen kann man in einem Self in der obersten Etage recht preisgünstig essen und dort ließen wir uns zu Kaffee und Imbiss nieder. Die Straßen hinter dem Gum waren zugeparkt mit Limousinen der teuersten Art.

Moska - Kaufhaus Gum

Auf unserem weiteren Weg wurden wir von heftigem Gewitterregen aufgehalten und mussten uns immer wieder unterstellen. Wir liefen zum Hotel und entschlossen uns am Ende, nicht mehr hinaus in den Regen zu gehen, sondern im hauseigenen Restaurant zu essen. Da wurden kleine Portionen durchschnittlichen Essens unenthusiastisch serviert, aber wir wurden immerhin nicht nochmal nass. Im Fernseher liefen in rascher Folge kurze Actionfilme billigster Machart, die alle Genres von Ivanhoe über Kung Fu und Dschungelbuch bis zu James Bond streiften. Und es gab allerlei zu besichtigen. Im Foyer saßen einige sehr junge, sehr overstylede Mädels, während wir aßen wurde neben uns mit stark riechender Möbelpolitur hantiert, einmal kam eine Frau, steckte das Ladekabel ihres Telefons in die Dose neben unserem Tisch und plärrte mir telefonierend auf Russisch ins Ohr. Das Personal war freundlich, aber von nicht gerade einladender Dienstfertigkeit. Wir tranken unser Bier aus und gingen aufs Zimmer. In einer Wohnung gegenüber wurde fröhlich gefeiert und kräftig gesungen, aber nach einer Weile wurde es auch da ruhig.

Die Nacht war angenehm, nur die Besucher des gegenüberliegenden Kinos machten nach dem Ende der Vorstellung etwas Lärm und irgendwann zog auch einmal ein Krakeeler vorbei. Sonst war Ruhe, bis kurz nach Sechs der Tagesverkehr begann.

Das Frühstücksbuffet war süß und herzhaft reichlich bestückt und die Bedienung an einem Pult in der Ecke wachte nicht über Benehmen und Grenzen des Verzehrs, wie es nach ihrem Habitus den Anschein haben konnte, sondern sie trug neu auf, was immer zur Neige zu gehen drohte. Zwei Italiener waren da, und ein überaus dicker junger Mann, der hörbar kurzatmig schnaufte, als er zum Buffet schlurfte, um sich ein weiteres Mal aufzutun.

Wir packten, stellten unsere Rucksäcke in eine Kammer neben der Rezeption, wo Tag und Nacht ein Sicherheitsmann vor den Monitoren der Videoüberwachung zu sitzen schien, und gingen hinaus.

Veteranen

Unser erster Weg führte zur Touristeninformation, um ein paar Auskünfte einzuholen. Dann überquerten wir eine kleine Brücke zu einem Park. Am Wasser saßen einige Angler und den Uferweg entlang kam uns ein kleiner Trupp Männer entgegen, die eine flatternde rote Fahne und Plastiktüten mit gefüllten Flaschen mit sich führten. Sie versammelten sich im Schutz einiger Bäume und Sträucher, wie vortags die jugedlichen Zündler. Viele von ihnen trugen Uniformmützen oder andere Teile militärischer Kleidung, zum Teil auch mit Orden geschmückt. Sie fotografierten einander in verschiedenen Posen. Während wir weitergingen, kamen uns immer wieder Gruppen mit gut gefüllten Tüten entgegen und aus dem Gebüsch ertönte alsbald Skandieren, Fußball-Schlachtrufen durchaus vergleichbar.

Ein Trupp Uniformierter mit den hier üblichen übergroßen Militärhüten querte in geordnetem Zug das Brücklein zur Afghanistan-Gedenkstätte und am Ende des Weges kam uns ein fröhlicher junger Veteran entgegen, sprach uns in gebrochenem Französisch an, konnte aber auf die Frage nach dem Anlass von allem nur hervorbringen, dass heute reichlich Wodka getrunken würde. Dies fanden wir bei weiteren Begegnungen mit Männertrupps im Laufe des Tages zunehmend bestätigt.

Minsk - Nationalbibliothek

Wir erwarben U-Bahn-Tokens und fuhren ziemlich weit hinaus zum spektakulären Neubau der Weissrussischen Nationalbibliothek. Dort gibt es im 23. Stockwerk eine Aussichtplattform, wo wir, umwuselt von lärmenden Schulklassen, einen weiten Blick über die Hochhäuser der Stadt tun konnten, von denen emsige Baukräne immer noch neue errichten.

Minsk - Neubaugebiet

Auf der der Bibliothek gegenüberliegenden Seite der breiten Straße erstreckt sich eine lange Reihe längs und senkrecht abgeordneter breiter und vielgeschoßiger Wohnscheiben. An den der Straße zugewandten Schmalseiten hat der sozialistische Realismus riesige symmetrische Fresken hinterlassen, welche Familie, Landwirtschaft, Handwerk, Industrie, Raumfahrt und andere Errungenschaften des Neuen Menschen preisen. Dahinter wird es etwas schäbiger, die Häuser haben codeschlossgesicherte Eisentüren, und dort suchten wir nach der Gedächtniskirche aller Heiligen, deren weißen Bau mit den goldenen Kuppeln wir von oben bereits gesehen hatten.

Minsk - Kathedrale

Auf dem weiträumigen Gelände stehen nebeneinander eine kleinere Kirche, ganz aus Holzstämmen errichtet, und die große weiße Kirche mit den goldenen Kuppeln. Dazwischen gab es eine überlebensgroße Moses-Statue mit goldenen Gesetztestafeln und einem Stab, an dessen Ende Wasser aus einem Felsen sprudeln und einen Brunnen speisen sollte. Das war versiegt und wohl deshalb buddelten einige Arbeiter hinter dem Standbild mit Schhaufeln ein großes und tiefes Loch in den Sand.

Die große Kirche fanden wir versperrt, in der kleinen gab es eine größere Zahl von Ikonen und Ständer für Opferkerzen, einen kleinen Devotionalienstand, etliche Beterinnen und Beter und eine Anzahl von Frauen mit Kopftüchern, die verschiedene Dienste an den Heiligtümern versahen. Wir gingen zurück zur U-Bahn-Station und fuhren zur Siegessäule, einem riesigen Obelisken inmitten eines stark befahrenen vielspurigen Kreisvekehrs.

In der Nähe das große Tor zu einem Park mit einem riesigen Denkmal des auf einer Bank sitzenden Gorki, davor einige Verkaufsstände mit Tand und Süßigkeiten, auch ein paar Autochen für Kinder, vor allem aber ein großer Promotion-Stand von Coka Cola, wo sich eine lange Schlange von Jugendlichen gebildet hatte, um kostenlos eine Dose von dem Getränk zu bekommen. Das Ritual dazu war etwas kompliziert, um die Spannung zu erhöhen und so ging es langsam voran. Die Jugend von Minsk steht an für Amibrause. Wenn das die Alten gewusst hätten.

Minsk - Gorki Park

Wir setzten uns noch zum Tee in ein Lokal, wo R&B und Lounge-Musik gespielt und in einem Nebenraum Shisha geraucht wurde. Wir hatten beschlossen, wieder beim Hotel zu Abend zu essen, weil da auch unser Gepäck war und weil wir da am Vorabend recht gut bedient worden waren. Ich wollte noch die WLAN-Verbindung nutzen, da startete plötzlich mein Telefon neu, wieder und wieder und ließ sich nicht mehr in Betrieb nehmen. Totalausfall von Kommunikation, Navigation, Adressen, Pins und Passwörtern für den Rest der Reise. Zum Glück bot Friederikes Gerät einen gewissen Ersatz.

Wir machten uns frühzeitig auf den Weg zum Bahnhof, kamen dort dann aber doch noch beinahe in Zeitnot, weil wir bei belebtem Tagesbetrieb den Weg durch die unterirdischen Flure nicht mehr fanden, die wir bei unserer nächtlichen Ankunft gegangen waren. Ein Wachmann schleuste uns schließlich durch eine Sperre, so dass wir hinunter in die U-Bahn-Station gehen und am anderen Ende im Bahnhof wieder aufsteigen konnten. Dann wurde es spannend, denn auf Gleis 1 stand ein Schlafwagenzug zur sofortigen Abfahrt, während unser Ticket eine etwas spätere Zeit angab, zu der allerdings auf der Abfahrtstafel kein Zug zu finden war.

Die Stewardessen des Zuges auf Gleis 1 sprachen wie immer keine Fremdsprachen und erst nach einer Weile half eine Reisende mit ein paar Wörtern Englisch aus. Tatsächlich war unser Zug zwei Bahnsteige weiter angezeigt und kam auch pünktlich. Wir bezogen wieder ein Zweierabteil im komfortablen Schlafwagen und richteten uns ein für die Nacht. Im Nebenabteil residierte ein stattlicher Uniformträger, der wohl für unsere Bewachung und unsere Sicherheit zugleich zuständig war. Der Zug rollte fort Richtung Moskau.

Die Nachtfahrt in dem noblen Schlafwagen war kurz und unruhig, der Lauf rau und schwankend von den ungleichmäßigen Schienen, alles vibrierte, wackelte und klapperte. Und durch eine Stunde Zeitverschiebung blieb uns nicht viel Schlafenszeit bis zur Ankunft in Minsk.

Die Morgentoilette auf dem Zugklo fiel eher knapp aus. Seife gab es aus einer kleinen Getränkeflasche, weil der Seifenspender nicht funktionierte, Waschwasser kam in hartem prickelndem Sprüstrahl, die Absaugspülung der Toilette erschreckte uns durch infernalisches Schlürfen und den automatischen Luftverbesserer ersetzte eine Sprühdose mit der aufgedruckten Duftnote "After the Rain". Erste Verfallserscheinungen der noblen Technik deuteten sich an.

In der Nacht hatte die Stewardess mit der Haltung einer energischen Krankenschwester abgepackte Frühstückshörnchen verteilt und kleine Plastikbehälter mit Kaffeepulver, Sahnedöschen, Zucker, einer winzigen Serviette, einem Erfrischungstüchlein und einer Waffel. An heißem Wasser zum Aufbrühen ließ sie es jetzt um Zwei am frühen Morgen leider fehlen. Stattdessen wies sie uns mit Nachdruck darauf hin, dass die bereitgestellten kleinen Stoffhandtüchlein unbedingt zum Verbleib im Zug bestimmt seien.

Pünktlich auf die Minute kamen wir in Minsk an. Wir stiegen aus, ignorierten am Bahnsteig die unaufdringlichen Taxiangebote und folgten zuerst, die Richtung mehr ahnend als an der kyrillischen Beschilderung ablesend, einer langen Flucht menschenleerer unterirdischer Gänge, bis wir auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes an die Oberfläche gelangten. Es dauerte eine Minute, bis mein Telefon das GPS-Signal gefunden hatte, dann führte es uns anhand der bereits zu Hause heruntergeladenen OSM-Karte sicher in Richtung Hotel Garni, wo wir gebucht hatten.

Die Straßen riesig breit und menschenleer. Alles wirkte jetzt, um halb Drei in der Nacht, aufgeräumt, sauber und sicher. Kein Müll, kein Gestank, keine Alkoholleichen. Auf den Hauptstraßen einige Taxis. Das Hotel war, wie versprochen, geöffnet. Auf unser Klingeln am Tresen erschien eine höchst freundliche junge Frau, nahm unsere Pässe entgegen und händigte uns die Schließkarte für unser Zimmer aus. Edles Ambiente in dunklem Holz. Wir staunten, packten ein Wenig aus und legten uns in die bequemen weichen Betten.

In der Nacht gab es ein kräftiges Gewitter, sonst blieb es angenehm ruhig, bis um sechs Uhr etwas Autoverkehr begann. Wir ließen uns nach der geteilten Nachtruhe reichlich Zeit und waren erst um halb Zehn auf der Straße.

Noch mehr als in der Nacht staunten wir bei hellichtem Tag über die Dimensionen der Straßen und Plätze, die nicht den Bedürfnissen des Verkehrs, sondern denen nach Repräsentation und Prachtentfaltung geschuldet zu sein scheinen. Der einzelne Mensch wirkt in solchen Weiten verloren und hat lange Wege zu laufen.

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Am Unabhängigkeitsplatz mit dem Lenin-Denkmal gegenüber dem Bahnhof wird das besonders deutlich. Wir besuchten nebenan eine pfingstlich geschmückte katholische Kirche, dann wechselten wir Geld bei einer Bankniederlassung im Bahnhof, wo wir auch einen kräftigen Regenguss abwarteten. Für 100 Euro bekamen wir 1.566.000 BIR. Keine Münzen. Ein Toilettenbesuch kostet 5.000, ein Kilo Bananen 20.900, zwei Milchkaffee 32.000. So weit die Erfahrungen aus dem weitläufigen Einkaufszentrum unter dem Platz. Wir versuchten, ein Gefühl für die Preise zu entwickeln. Die fremdartige kyrillische Schrift ist ebenso gewöhnungsbedürftig,wie die Währung, zumal es verschiedene Typografien gibt, in denen die Zeichen sehr unterschiedlich aussehen. Hinzu kommen westeuropäische Schreibweisen, wie "Stop", "WC" und natürlich die auch hier allgegenwärtigen internationalen Marken.

Wir machten Halt in einem schmalen Park, sahen uns das Altstädter Rathaus an, dann eine orthodoxe Kirche in der Nähe, saßen nebenan auf einer Bank bei einem Brunnen,  umrundeten das Kloster und beschlossen dann, uns im nahen Hotel etwas auszuruhen und uns etwas wärmer anzuziehen, denn es wehte ein kräftiger kühler Wind.

Später machten wir nochmal einen Rundgang, sahen ein Quartier, in dem jedes zweite Auto ein SUV westlicher Provenienz war, moderne Hochhäuser, einen Showroom von Bentley, eine anrührende Gedenkstätte für die Gefallenen des Afghanistan-Krieges und schließlich, auf einem Hügel, die pompöse Oper im stalinistischen Monumentalstil, wo erste Besucher der Abendvorstellung einzutreffen begannen.

Im Schutz einer nahe gelegenen Baumgruppe hatten Jugendliche ein winziges Feuerchen gemacht.  Es schien uns wie ein kleines Aufflackern von Unbotmäßigkeit in dieser aufgeräumten, blitzsauberen Stadt, wo niemand bei Rot über die Straße geht.

Wir begannen, ein Abendessen zu suchen. Sehr von Nachteil ist, dass vor den Lokalen keine Preistafeln angebracht sind, und nur selten Speisekarten mit für uns verständlichen Bezeichnungen. Und wo wir doch einmal einen Preis sehen konnten, begann angesichts der sechsstelligen Zahlen das verwirrende Umrechnen.

Unsere Suche endete im Restaurant des Hotels, und das war keine schlechte Idee, denn das Essen war ausgezeichnet. Neben uns tafelte eine größere Gruppe Frauen. Für sie war so üppig aufgetischt, dass die Reste noch in gut zwanzig Styroporboxen gefüllt werden konnten, die eine der Frauen am Ende mitnahm. In einer Ecke des Saales gab es eine winzige Bühne, von der her etwas zu laute Popmusik mit kräftigen Bässen erklang. Später gingen auch noch eine blinkende Discokugel und einige Lightshow-Panels in Betrieb, und ein Karaokesänger gab etliche Stücke zum Besten. Als erstes verhunzte er einen Song von Sting, dann folgten zum Glück Lieder mit einheimischen Texten, die er überzeugender darbot. Sein Auftritt war dennoch irgendwie unnötig, denn schon bald waren nur noch wir und drei ältere Frauen anwesend, von denen eine beim Aufstehen spektakulär zwischen die Stühle stürzte. Ihre Freundinnen halfen ihr auf, die Kellnerin deckte ungerührt weiter fürs Frühstück. Wir gingen alsbald zu Bett.

Wir frühstückten, packten, brachten unser Gepäck zur Aufbewahrung und fuhren mit der Tram auf die andere Seite in den Stadtteil Praga.

Dort begannen wir unseren Rundgang im Bazar Różyckjego, einem offenen Markt, wo vorwiegend Kleidung angeboten wird, für alle Lebenslagen von der Geburt über Kommunion und Hochzeit bis ins Schlafzimmer. Alles sehr trostlos, zwischen den Brandmauern angrenzender Häuser. Die Händlerinnen und Händler mehr mit sich selbst beschäftigt, als mit der spärlichen Kundschaft.

Im Weitergehen heruntergekommene Wohnhäuser, über dem Parterre waagerecht angebrachte Gitter, um Passanten vor herunterfallenden Putz- und Mauerstücken zu schützen, Balkone mit durchgerosteten oder ganz fehlenden Bodenblechen, an manchen Häusern zum Teil vernagelte Fenster, hinter anderen sieht es bewohnt aus. Vorkriegsgebäude noch immer mit Spuren von Geschosseinschlägen. Dazwischen große breite Wohnsilos aus sozialistischer Zeit. In diesem Teil der Stadt wenig neue oder renovierte Gebäude. An einem großen Trambahndepot erklärt eine Tafel, dass die Trambahner Betriebsgebäude und Wohnungen nach dem Krieg eigenhändig wieder aufgebaut hätten. Inzwischen sehen die Wohnhäuser wieder stark vernachlässigt aus.

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In einem unscheinbaren Laden ein Postamt. Drei Schalter, einige Stühle, ein Tisch, an dem zwei Kundinnen Formulare ausfüllen. Briefmarken kaufen. Eine kleine Warteschlange. Auf den Stuhl neben mir krabbelt ein süßer Dreikäsehoch, in einer Hand ein Rindenstück, in der anderen ein gefiedertes Blatt. Kindergartenschätze. Er ahmt lautstark und anhaltend Autogeräusche nach. Eine ältere Frau scheint ihn mir zuzuordnen und wirft mit grantigen Blicken. Ich schmunzle und zucke die Schultern. Seine Mutter recht jung, beginnt sich lieb um ihn zu kümmern. Wir ziehen weiter.

An einem Seitenaltar der Bazylika Serca Jezusowego ist Gottesdienst mit wenigen Gläubigen. Marienlieder werden gesungen. Neben dem Eingang ein reichvergoldetes Reliquiar mit einem halben Quadratzentimeter weißen Stoffes und ein paar anderen Fasern, Johannes Paul II zugeordnet, der in der Stadt allenthalben verehrt wird.

Was in Warschau auffällt, sind die zahlreichen ausländischen Gastronomieangebote. In dieser Gegend vor allem türkische Dönerläden, sonst auch Pizzerien, Inder, Nepalesen, die ganze internationale Küche. Was noch auffällt, sind die überraschend wenigen Raucher. In Lokalen wird nicht geraucht, auf der Straße sieht man gelegentlich elektrische Zigaretten. Alkohol hingegen gibt es in manchen Läden bis zu 24 Stunden am Tag und es gibt zahlreiche Leute, denen man seinen intensiven Konsum ansieht.

Am frühen Nachmittag setzten wir uns für einige Zeit in ein Café nahe beim Hotel, dann kauften wir Proviant, holten unser Gepäck und gingen zum Bahnhof, um Warschau in Richtung Minsk zu verlassen.

Der Zug, mit Endstation Moskau, Weißrussischer Bahnhof, war absolut pünktlich und sehr modern und komfortabel. Wir hatten ein großes Abteil für uns allein, mit RFID-Karte für das Schloss und eine dickliche kleine Stewardess erklärte uns mit Händen und Füßen und in ihrer eigenen Sprache, wie die unteren Betten aufzuklappen seien und dass wir in allen nur denkbaren Währungen bezahlen könnten, wenn wir aus dem bereitliegenden Katalog von Getränken, Snacks, Souvenirs und Spielsachen wählen wollten. Wir verzichteten vorerst und machten es uns bequem.

Bald gesellte sich ein Erfurter aus dem Nebenabteil zu uns, der nach seiner Pensionierung eine Weltreise unternehmen wollte. Erstes großes Ziel sei Peking. Wir unterhielten uns über dies und das und gelangten zur weißrussischen Grenze. Da gab es polnische Passkontrollen und Visakontrollen und weißrussische  Passkontrollen und Visakontrollen und winzige Zettelchen, zweifach mit allen unseren Daten auszufüllen, deren fransig abgerissene Hälfte uns wieder ausgehändigt wurde, damit wir sie bis zur Ausreise sehr sorgfältig verwahrten.

Dann ging es in eine große Halle mit Hebevorrichtungen, wo unser Zug auf andere Drehgestelle mit der breiten russischen Spurweite umgesetzt wurde. Das dauerte seine Zeit und darüber wurde es Nacht.

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Im Bahnhof von Brest kletterten wir in unsere Betten. Die Nacht würde nicht lang werden.

Das Campanile Hotel in Warschau liegt direkt an den Gleisen zum Zentralbahnhof und bei einer großen Straßenkreuzung. Deshalb hielten wir in der Nacht das Fenster geschlossen. Wir hätten dazu die künstliche Belüftung anschalten sollen, denn so wurde es etwas zu warm. Sonst war das Zimmer zwar klein, aber völlig in Ordnung. Das reichhaltige Frühstücksbuffett gab es im angenehmen, modern eingerichteten Restaurant. Mit Einlasskontrolle.

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Wir wanderten zwischen Hochhäusern,  Plattenbauten und Ruinengrundstücken zum Grzybowski-Platz und von dort in ebensolcher Stadtlandschaft durch das Gebiet des ehemaligen Ghettos zum Museum des Warschauer Aufstands. Es ist ein sehr merkwürdiges Gefühl, als heutiger Deutscher durch diese Ausstellung zu gehen, in der in drastischen Zeitdokumenten die Gräueltaten der eigenen Vorfahren im  besetzten Warschau dargestellt werden. Wir schämen uns, sind zugleich froh, dass weniger als ein Menschenalter später Normalität zwischen den Völkern eingetreten ist und hoffen, dass das so bleibt. Im Café DoWoli, wo wir auf dem weiteren Weg Halt machten, hörten wir zum Cappuccino ein Lied der französischen Sängerin Zaz.

Nächste Station waren die Mirów Markthallen, ein bemerkenswert ruhiger Ort, ohne das Geschrei südländischer Märkte, mit zum Teil winzigen Läden, Frisiersalons, Nähereien und anderen Angeboten.

Unser weiterer Weg führte uns zum Gelände des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers, dessen Gedenkstätte derzeit allerdings eine Baustelle ist. Nächste Station war das Denkmal der Ghettohelden, vor dem Willy Brandt am 7. Dezember 1970 den berühmten Kniefall tat. Ein wenig entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des jüdischen Museums, erinnert eine Bronzetafel an diesen einzigartigen großen Moment bundesrepublikanischer Geschichte.

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Wir besuchten noch den "Umschlagplatz" von wo aus 300.000 Juden in die Vernichtungslager gebracht worden waren und machten uns dann gedankenvoll auf den Weg zurück ins Hotel.

Da es zu regnen begonnen hatte, wollten wir mit der Straßenbahn fahren. Die Linie war mit Hilfe von OpenStreetMap schnell gefunden. Einen Fahrkartenautomaten gab es an der Haltestelle leider nicht, aber der Zug der Linie 1, der dann kam, war von der modernen Sorte, die einen Automaten an Bord hat und so gelangten wir schnell und trocken zum Hotel.

Zum Abendessen liefen wir nochmal ein ganzes Stück bis zu U Swejka. Dort war es laut, zünftig, deftig und mehr als reichlich für zu zweit um nicht einmal 20€. Am Geschmack, meint Friederike, könnte noch etwas gearbeitet werden. Ich war zufrieden.

Die Stadt ist großzügig angelegt, mit breiten Boulevards und riesigen Plätzen, und so sind unsere Fußwege lang. In einer der Buden nahe beim Hotel holten wir uns noch zwei Flaschen Bier und gingen aufs Zimmer, um unsere müden Beine auszustrecken.

Die Nacht im Zug war ruhig und so angenehm, wie eine Schlafwagenfahrt nur sein kann. Die Temperaturschwankungen störten ein Wenig. Bisweilen wurde rangiert, eine Zeit lang stand der Wagen irgendwo herum.

Gegen halb Sieben wachten wir auf und machten uns abwechselnd an dem winzigen Waschbecken frisch. Zu zweit kann man sich auf dem engen Raum des Abteils nicht bewegen. Einer muss immer auf dem Bett sitzen und warten, bis der andere fertig ist. Später kam der beflissene Schaffner und brachte Kaffee, sowie die Botschaft, dass wir vierzig Minuten Verspätung hätten. Das hatten wir nach einem Blick aufs GPS auch schon geahnt. Wir verspeisten etwas von unserem Proviant und die Frühstückshörnchen, die wir im Spiegelschrank gefunden hatten und schauten hinaus in die üppig grüne, fast völlig ebene und oft sumpfige Landschaft. Auch hier schien es schon länger ergiebig geregnet zu haben. Der sandige Boden war oft aufgeweicht, auf Feldern und Wiesen stand Wasser.

Wir kamen in Warschaus hochmodernem Zentralbahnhof an und versuchten erst einmal an verschiedenen Informationsschaltern den für die Weiterfahrt gebuchten Zug zu verifizieren. Er steht nicht auf den Abfahrtstafeln, aber es scheint ihn zu geben. Dann machten wir uns auf den Weg zum Hotel. Dort konnten wir unser Gepäck abstellen, dann starteten wir zu einem ersten Rundgang.

In der Umgebung des Zentralbahnhofs stehen hohe Wolkenkratzer und moderne Glaspaläste unmittelbar angrenzend an weite Ruinengrundstücke und heruntergekommene Altbauten. Anders in der Gegend des Schlosses, wo nach dem Krieg fast alle Gebäude originalgetreu wieder aufgebaut worden waren, so dass sich das Bild einer historischen Stadt bietet. Wir folgten einem Rundgang aus dem Reiseführer und sahen hübsche Gassen, Plätze, die Stadtmauer, ein paar Kirchen und einige Aussichtspunkte. Außerdem, wie zu erwarten, zahlreiche Touristen, Souvenirläden, einige Pferdekutschen und ein Touristenbähnle. In einem Straßencafe machten wir Pause.

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Von den interessanten modernen Dachgärten der Universitätsbibliothek und des Kopernikus-Zentrums hatten wir einen weiten Rundblick über die Stadt. Dann setzten wir uns eine Weile auf die Steintreppen am Ufer der Weichsel und sahen den Ausflugsbooten und den bunten Zügen auf der Eisenbahnbrücke zu.

Auf unserem weiteren Weg passierten wir das Chopin-Museum und gelangten dann zum Militärmuseum, dessen Außenanlagen noch geöffnet waren. Wir gingen hinein und staunten über im Freien aufgestelltes Kriegsgerät aller Art. Kleine Propellerflugzeuge, Strahlgetriebene Jagdflugzeuge und Bomber, Panzer, Flakgeschütze, Schiffskanonen, mobile Raketenabschussrampen und allerlei schwere Munition. Die Leute spazierten herum und machten vor den Flugzeugen und Panzern Selfies von sich und den Kindern. Nationen, die keinen Angriffskrieg geführt und verloren haben, scheinen da recht unbefangen zu sein.

Über das Regierungssviertel liefen wir dann zum Hotel, checkten ein, packten aus, streckten ein wenig die Beine aus und gingen dann im Abenddämmerlicht in der Nähe zum Essen.

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Das Grand Kredenz konnte die Erwartungen nicht ganz erfüllen, die TripAdvisor und unser Müller-Reiseführer geweckt hatten, aber wir wurden satt und gingen dann zurück ins Hotel. Nach der nächtlichen Zugfahrt und dem ganzen Tag unterwegs waren wir doch recht müde.

Erst am Nachmittag abzureisen ist recht angenehm, weil man dann in aller Ruhe die letzten Vorbereitungen treffen kann.

Der Start brachte schon einen Hauch von Abenteuer, weil eine S-Bahn ausfiel und wir zudem während des Wartens am Ottobrunner Bahnhof herausfanden, dass der Railjet nach Wien eine Viertelstunde eher abfährt, als auf unserem Reiseplan verzeichnet. Aber wir hatten wie immer großzügig geplant und waren beizeiten am Hauptbahnhof. Der Grund für die Fahrplanänderung war wohl eine Sperrung der Strecke zum Ostbahnhof und so rollten wir recht gemächlich über Moosach und den Nordring nach Trudering, wo wir die normale Strecke nach Salzburg erreichten. Ab dem Chiemgau regnete es draußen gleichmäßig, Wiesen standen unter Wasser. Der Zug war angenehm leer. Bis Salzburg hatten wir auch die umwegbedingte Verspätung aufgeholt.

Der österreichische Railjet erwies sich wieder einmal als sehr gepflegtes Reisemittel. Ab der Grenze gab es WLAN mit ausgezeichneter Internetanbindung, später durchaus schmackhaftes Essen im Bordrestaurant, dazu ein Ottakringer Helles und so gelangten wir auf angenehme Weise nach Wien.

Dort stand dann einen Bahnsteig weiter schon der polnische Nachtzug bereit, der uns nach Warschau bringen sollte. Der dienstergraute Schlafwagenschaffner wies uns mit leiser Stimme ein und wir bezogen unser winziges aber sehr komfortables Zweibettabteil. Bis wir uns umgetan und eingerichtet hatten, fuhr der Zug dann auch schon los.